Talk – Wie steht es um die Finanzkompetenz der Schweizer Bevölkerung?
Wie steht es um die Finanzkompetenz der Schweizer Bevölkerung? Wir wollten mehr darüber erfahren und haben gemeinsam mit Michael Kendzia von der ZHAW School of Management and Law eine repräsentative Studie zum Finanz- und Anlagewissen der Schweizer Bevölkerung in Auftrag gegeben.
Gemeinsam haben wir das Marktforschungsinstitut GfK beauftragt, eine repräsentative Umfrage in der Schweiz durchzuführen, bei der über 2000 Personen befragt wurden. Eines der Ergebnisse war, dass die Schweiz im internationalen Vergleich gar nicht so schlecht dasteht. Hat dich das überrascht?
Nein, im Gegenteil. Es gibt zahlreiche Studien zur Finanzkompetenz (Financial Literacy), und das Thema hat in den letzten Jahren an Bedeutung gewonnen. Annamaria Lusardi ist in diesem Bereich eine zentrale Figur, auch auf globaler Ebene. Sie ist zudem Herausgeberin der Fachzeitschrift «Financial Literacy and Wellbeing», die seit Jahren zeigt, dass die Schweiz im internationalen Vergleich gut abschneidet – man könnte sogar sagen, sie gehört zu den Spitzenreitern. Auch Deutschland steht in diesem Bereich gut da, was Ausdruck der leistungsstarken Bildungssysteme beider Länder ist. Das wurde auch in einer weltweiten Studie bestätigt, die im Rahmen eines Hintergrundpapiers für die Weltbank erstellt wurde. Österreich könnte man ebenfalls noch zu diesen Ländern zählen.
Im Durchschnitt konnten die Befragten 52% der Fragen zur finanziellen Allgemeinbildung korrekt beantworten. Was hat dich erstaunt bei den Resultaten?
Von den zehn Fragen der Studie sind drei Standardfragen, die auch in internationalen Studien häufig gestellt werden. Sie betreffen die Auswirkungen von Zinsen, Inflation und Diversifikation – grundlegende Themen. Wir haben jedoch auch anspruchsvollere Fragen gestellt, wie etwa jene zum Verhalten von Obligationen bei einer Zinsänderung, oder zur Bedeutung von Cash. Bei den sogenannten «Big Three»-Fragen zu Zins, Inflation und Diversifikation, gab es keine grossen Ausreisser. Allerdings schnitten wir bei Fragen zu Cash oder zum Verständnis des Obligationenmarktes schlecht ab. Möglicherweise haben wir hier auch die falschen Fragen gestellt.
Wir haben einige interessante Muster beobachtet. Auffällig war der Unterschied zwischen Männern und Frauen in Bezug auf das Finanzwissen.
Ja, es gibt gut dokumentierte Belege dafür, dass Frauen im Durchschnitt weniger risikofreudig sind als Männer, was teilweise die 15-prozentige Abweichung bei den korrekten Antworten der Geschlechter erklärt. Risikoaversion ist bei Frauen tendenziell stärker ausgeprägt, was sich auch in ihrem Finanzverhalten widerspiegelt.
Dieses Muster sehen wir nicht nur bei Unfällen, sondern auch bei Drogen- und Alkoholmissbrauch sowie bei den Insassen in Gefängnissen. Männer neigen insgesamt zu riskanterem Verhalten. Frauen hingegen zeigen, wenn sie sich in einem Bereich unsicher fühlen, diese Unsicherheit offen – was uns zum Thema Selbstvertrauen bringt. Wenn Frauen etwas nicht wissen oder verstehen, geben sie dies zu. Bei Männern ist das anders: Der «Overconfidence Bias» ist bei ihnen stärker ausgeprägt. Obwohl sie sich nicht immer gut auskennen, handeln sie trotzdem. Das ist der eine Punkt – das grössere Selbstvertrauen bei Männern, im Gegensatz zur stärkeren Risikoaversion bei Frauen.
Natürlich spielen aber auch die Lebensumstände eine Rolle, insbesondere im Hinblick auf die Familienplanung. Oft nimmt die Frau beruflich einen Schritt zurück, arbeitet Teilzeit, während der Mann weiterhin vollzeit arbeitet. In manchen Fällen steigen Frauen sogar komplett aus dem Berufsleben aus, um sich der Kinderbetreuung zu widmen. Dies lenkt die Aufmerksamkeit von finanziellen Themen ab und kann zu einer geringeren Finanzkompetenz führen. Zudem sind Finanzen in den letzten Jahrzehnten ein männerdominiertes Feld gewesen. Das Zitat von Peter Drucker «Culture eats strategy for breakfast» ist hier besonders relevant: Die kulturelle Prägung spielt eine wesentliche Rolle. Noch heute gibt es Paare, bei denen der Mann seit 30 Jahren die Finanzen allein verwaltet, und in manchen Fällen hat die Frau nicht einmal ein eigenes Bankkonto.
Eine der Fragen in unserer Studie bezog sich auf ETF, und wir stellten fest, dass jüngere Menschen diese Frage tendenziell besser beantworten konnten als ältere.
Dies ist nicht verwunderlich, da ETF erst in den 1990er Jahren durch John Bogle, dem Gründer von Vanguard, populär wurden. Zu jener Zeit hatte ich gerade mein Abitur gemacht, und das Verständnis für breit angelegte Indexfonds war noch nicht weit verbreitet. Heute wird regelmässig darüber berichtet. Das Thema ETF wird zunehmend wichtiger.
Du hast auch das Thema Erbe angesprochen, das oft erst im höheren Lebensalter relevant wird. Das erklärt auch, warum Geld und Finanzen häufig als «alt und männlich» charakterisiert werden.
In meiner Kindheit galten Aktien in meiner Familie, die unternehmerisch geprägt war, als etwas, das man besser meiden sollte – fast wie ein Casion. Es ist bedauerlich, dass solche Vorurteile bis heute in vielen Köpfen verankert sind, denn dadurch werden Chancen verpasst.
Insbesondere hinsichtlich der Lebensqualität im Alter ist es fatal, wenn man sich nicht frühzeitig mit der Geldanlage befasst. Mit 30 mag das weniger wichtig erscheinen, aber im Ruhestand möchte man sich eine hohe Lebensqualität und einen gewissen Lebensstandard sichern – und das gelingt mit den richtigen Finanzinstrumenten.
Ein Kollege erzählte mir kürzlich von seinen Eltern, die 30 Jahre lang Geld auf ein Sparkonto eingezahlt haben. Der Betrag, der sich nach dieser Zeit auf dem Konto angesammelt hat, ist im Vergleich zu einem globalen ETF verschwindend gering. Der ETF hat das Sparkonto bei Weitem übertroffen. Wer also auf solche Anlageformen verzichtet, verzichtet letztlich auf eine bessere Lebensqualität im Alter.
Viele Menschen fürchten jedoch die Schwankungen, die sogenannte Volatilität, die mit Aktienmärkten einhergeht. Volatilität wird häufig als etwas Negatives wahrgenommen, obwohl sie in Wirklichkeit Wachstum ermöglicht. Wenn ein Unternehmen über einen Zeitraum von acht Jahren kontinuierlich um 10% pro Jahr wächst, hat sich sein Wert nach dieser Zeitspanne verdoppelt. Das zeigt sich auch in einem Artikel von Kenneth Fisher in der New York Post vom März 2024, wo beschrieben wird, dass grosse Schwankungen, also solche über 10%, langfristig häufiger auftreten als kleine Bewegungen von -10% bis +10%. Die Tatsache, dass die Aktienmärkte in 73% der Jahre (zwischen 1926 und 2023) gestiegen sind, ist eine überzeugende Statistik.
Du und ich sind sehr an Finanzmärkten interessiert, doch wir dürfen nicht erwarten, dass jeder diese Leidenschaft teilt. Trotzdem ist es wichtig, dass Menschen ein gewisses Grundwissen über Finanzen haben. Was würdest du Menschen raten, die andere Interessen haben?
Mein Ratschlag wäre: Selbstverantwortung übernehmen. Ich habe einmal an einer Studie für den Deutschen Bundestag mitgewirkt, die sich mit den neuen Anforderungen durch den Wandel in der Arbeitswelt beschäftigte. Die zentrale Erkenntnis dieser Enquete-Kommission «Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität» lautete: Selbstverantwortung lernen.
In diesem Zusammenhang möchte ich die Schweiz ausdrücklich loben, da sie in vielen Bereichen, auch im Vergleich zu anderen Ländern, gut abschneidet. Es geht darum, Eigenverantwortung zu übernehmen, und es gibt heute zahlreiche Bildungsmöglichkeiten. Wer sich informieren möchte, findet im Internet viele Artikel darüber, wie man richtig investiert. Ein guter Ratschlag ist, ETF zu nutzen – idealerweise global diversifizierte Fonds, die in verschiedene Branchen und Länder investieren. Eine klare «Buy and Hold»-Strategie ist ebenfalls ratsam: Man kauft das Produkt und hält es langfristig. Entscheidend ist, nicht zu den denkbar schlechtesten Zeitpunkten zu verkaufen, sondern zu lernen, seine Emotionen im Griff zu behalten.
Kenneth Fisher betont zudem immer wieder die Bedeutung von politischem und medialem Bewusstsein. Man sollte wissen, was in der Welt passiert, aber gleichzeitig auch in der Lage sein, wegzusehen und sich nicht von kurzfristigen Ereignissen beeinflussen zu lassen. Im ersten Semester Journalismus lernen Studierende das Prinzip: «Nicht 'Hund beisst Mann', sondern 'Mann beisst Hund' ist eine Geschichte.» Es sind immer die Schreckensmeldungen, die aus der Masse herausstechen und Aufmerksamkeit erregen. Ein pünktlicher Zug ist keine Geschichte.
Was du ansprichst, ist ein bekanntes Phänomen: In den Medien gibt es immer wieder Phasen, in denen negative Schlagzeilen dominieren. Das hat jedoch oft mehr mit den Medien selbst zu tun als mit der tatsächlichen Lage an den Märkten.
Stimmungen schwanken, und dies spiegelt sich in den Marktberichten wider. Sir John Templeton, einer der herausragenden Marktstrategen, teilte die Marktphasen in vier Stufen ein. Die erste Phase ist die der Depression, in der die Medien oft vom «Tod der Aktie» oder einer «Eiszeit für Aktien» sprechen. Interessanterweise ist dies häufig eine ausgezeichnete Zeit, um Aktien zu kaufen, da die Bewertungen niedrig sind. Dennoch kommen in dieser Phase oft wenig neue Mittel in den Markt, da viele Anleger Geld verloren haben und sich deprimiert zurückziehen.
Es gibt jedoch immer eine Gruppe von Investoren, die genau in solchen Zeiten einsteigen. Dieses Verhalten erfordert Mut, denn in einem Marktumfeld, in dem Überbewertungen korrigiert wurden, sind die Unternehmen oft fair oder unterbewertet. Die zweite Phase, die Templeton beschreibt, ist die der Skepsis. Hier zögern viele Anleger und fragen sich: «Lieber das Pulver trocken halten», wie es oft in den Medien heisst. Die dritte Phase ist der Optimismus. In dieser Phase lesen wir Schlagzeilen wie «Ja zum ETF», und viele Investoren kehren auf den Markt zurück. Schliesslich mündet der Zyklus in die Euphorie, die vierte Phase. Ein prägnantes Beispiel ist das Jahr 2000 mit der Telekom-Aktie T-Online, die als «Volksaktie» von der Bild-Zeitung beworben wurde – kurz vor demAbsturz.
Wenn wir über die Rolle der Medien im Finanzsektor sprechen, fällt auf, dass Journalisten häufig in die Vergangenheit blicken. Sie analysieren die Marktentwicklungen rückblickend und beschreiben sie, als wäre alles im Nachhinein offensichtlich.
Die Zukunft vorherzusagen, etwa ob weitere Verluste bevorstehen oder ob es ein guter Zeitpunkt für einen Einstieg ist, ist unmöglich. Eine praktikable Methode, um langfristig erfolgreich zu sein, ist das «Dollar Cost Averaging», also die Durchschnittskostenmethode. Hierbei wird regelmässig ein fester Betrag investiert, unabhängig von den Marktentwicklungen. Dies erlaubt es, das investierte Kapital kontinuierlich arbeiten zu lassen.
Die Zeit ist dabei ein wesentlicher Faktor, den viele unterschätzen. Häufig streben Menschen danach, schnell reich zu werden – eine Folge unserer Kurzsichtigkeit und Ungeduld. ETF arbeiten für dich, sie benötigen jedoch Zeit. Der entscheidende Faktor ist also Geduld.
Eine interessante Studie von Nejat Seyhun von der University of Michigan hat gezeigt, dass 95% der Kapitalmarktgewinne an nur 90 von insgesamt 7'500 Handelstagen erzielt werden. Betrachtet man einen Zeitraum von 30 Jahren, wird deutlich, dass Ungeduld und das ständige Kaufen und Verkaufen dazu führen können, dass man diese entscheidenden Marktentwicklungen verpasst. Niemand kann diese starken Kurssteigerungen vorhersagen. Es gibt keine Kristallkugel, die uns sagt, wann diese wichtigen Sprints auf den Märkten eintreten werden.
Für Menschen, die sich nicht intensiv mit Finanzen beschäftigen, könnte die Botschaft lauten: Am Ende ist es gar nicht so kompliziert. Was man verstehen sollte, ist die Risikoprämie. Wer investiert, erhält langfristig eine Prämie für das Risiko, das er eingeht. Wer nicht investiert, nimmt langfristige finanzielle Nachteile in Kauf.
Ein weiteres wichtiges Prinzip ist Geduld. Das Sparen und Investieren erfordert, dass man weniger ausgibt, als man könnte. Ein bekanntes Beispiel ist das sogenannte «Marshmallow-Experiment», das vom ehemaligen Stanford-Professor Walter Mischel durchgeführt wurde. Er setzte sich mit Kindern im Alter von vier bis fünf Jahren zusammen, gab ihnen ein Marshmallow und sagte: «Du kannst dieses Marshmallow jetzt essen, oder du wartest, bis ich zurückkomme. Wenn du es nicht isst, bekommst du ein zweites.»
Interessant war nicht nur, ob die Kinder das Marshmallow assen, sondern die langfristigen Auswirkungen. Mischel veröffentlichte 1972 seine Ergebnisse und untersuchte die Teilnehmer über Jahre hinweg. Er fand heraus, dass jene Kinder, die warten konnten und somit zwei Marshmallows erhielten – etwa ein Drittel der Teilnehmer –, im späteren Leben signifikant weniger Probleme mit zum Beispiel Drogenmissbrauch und Übergewicht hatten. Zudem wiesen sie bessere Stressregulationsmechanismen, höhere soziale und kognitive Fähigkeiten sowie insgesamt bessere Lebensbedingungen auf. Dieses Experiment illustriert, wie wichtig Geduld ist.
Geduld wird nicht nur auf dem Arbeitsmarkt belohnt, sondern auch auf dem Kapitalmarkt. Es geht darum, die Zeit für sich arbeiten zu lassen, und ETF bieten dafür eine einfache und effektive Möglichkeit. Es ist nicht erforderlich, den perfekten Einstiegszeitpunkt zu finden. Vielmehr geht es darum, die Zeit und den Zinseszinseffekt für sich arbeiten zu lassen. Zudem sind Dividenden ein attraktiver Aspekt: Sie stellen einen zusätzlichen Einkommensstrom dar, der sich im Laufe der Zeit summiert, insbesondere wenn man diese Dividenden reinvestiert.
Michael, vielen Dank für das Interview und auch ein grosses Dankeschön an das Publikum für das Interesse.
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